Schattens lange Kurzgeschichte(n)...

Ein sanfter Wind spielt mit meinen Haaren, als ich aus dem Park und auf die Brücke trete. Blut kühlt meine Handgelenke und tropft auf das Brückengeländer, Blut färbt mein weißes T-Shirt rot. Weiß – das ist so ziemlich das Einzige, was ich in letzter Zeit zu Gesicht bekommen habe. Weiße Kleider, weiße Wände, weiße Betten. Sie haben mich tatsächlich in eine Irrenanstalt gesteckt. Klar, sie nennen sie nicht so, aber wer da drin nicht irre wird, kann kaum ein Mensch sein. Es scheint eine Ewigkeit und doch nur einen Tag her zu sein, als meine Freundinnen zum ersten Mal mitgekriegt haben, dass ich mich ritze. Witzig, wenn man selbst Geheimnisse preisgibt, tun es auch die anderen. So viele haben sich schon geritzt oder tun es immer noch. Sie verstecken sich hinter ihren Masken, lachen, albern rum, führen sich auf die größten Idioten. Und innerlich verbrennen ihre Seelen. Ihre Rüstung füllt sich immer mehr mit Blut und Tränen – und eines Tages werden sie darin ertrinken. Sie tragen ihren Tod – freiwillig.

Wie ein Blitz durchzuckt mich eine Erkenntnis – Klar, sie wollen ja sterben! Aber ob sie wissen, dass sie schon dabei sind? Sie glauben doch, dass ihre Masken sie glücklich machen. Sie können so tun, als ginge es ihnen gut und weinen heimlich, sie belasten niemanden mit ihren Problemen – von mir abgesehen. Wieso, wieso kann ich nicht so stark sein? Warum bin ich so schwach?! Ich beiße mir auf die Lippe, greife mein Messer und fahre mit ausholenden Bewegungen über meinen Arm. Wie Tränen läuft helles Blut aus den brennenden Wunden. Wie Tränen…

Ich zucke zusammen, als ich ein Geräusch höre. Ich lehne mich über das Brückengeländer und erkenne im Halbdunkel den Hauptgrund, warum sie mich in die Anstalt gesteckt haben – Kayano. >>Shinari.<< flüstert er – zumindest nehme ich es nur als Flüstern wahr. Tränen laufen mir übers Gesicht. >>Ka-Kayano.<< bringe ich hervor, als ein Ruf mich erneut zusammenfahren lässt. >>Luisa!<< ruft jemand. Luisa, das ist mein richtiger Name – sagen sie. Sie, die Wärter der Anstalt, in die sie mich gesteckt haben, die mir erklärt haben, dass ich Wahnvorstellungen hätte, nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden könnte. Ich hasste mein Leben so sehr, meinte meine Psychologin, dass ich mich in eine Traumwelt flüchtete. Zuerst war es die Welt der Manga. Aber es soll immer schlimmer geworden sein, ich soll mir eine richtige Welt aufgebaut haben, mir eine zweite Existenz erschaffen haben. Und nun soll ich nicht mehr wissen, welche Welt die wirkliche ist. Aber das stimmt nicht. Es gibt beide Welten. Und sie verfließen mehr und mehr ineinander, weil jemand eine Verbindung dazwischen geschaffen hat. Jetzt können Wesen aus der zweiten Welt zu uns kommen. Das weiß ich, denn ich sehe sie, sie sprechen mit mir. Sie sind immer für mich da. Sie sind meine besten Freunde.

Ich hatte auch vorher Freunde. Eben jene, die sich selbst ritzen, sich hinter Masken verstecken und lügen. Sie haben mich in die Anstalt gebracht, sie haben mich verraten und damit mein Leben ruiniert. Dabei wird dort niemand ‚gesund‘. Stattdessen werden wir von der Klippe der Hoffnung gestoßen, an die wir uns klammern, und fallen, immer tiefer. In die endlose Finsternis aus Verzweiflung, Hass, Angst und Hoffnungslosigkeit. Wir schreien um Hilfe, aber niemand, niemand hört es. Sie lassen uns nur immer weiter fallen, uns immer tiefer hinab sinken in diese Finsternis, die uns verschlingt wie ein hungriges Monster, die uns unsere Herzen, Hoffnungen und Träume zerreißt und unsere Seelen verbrennt. Es quält uns, und wir schreien, wünschen uns nichts sehnlicher als Hilfe. Aber wir werden ignoriert. Nur, wer selbst hinabfällt, sieht die Verzweiflung in den Augen der anderen. Aber dann kann man ihnen nicht helfen. Dann ist man selbst verloren.

>>Luisa!<< ertönt die Stimme noch einmal und reißt mich aus meinen Gedanken. Sie suchen mich. Ich habe ihnen nie gepasst, habe mehrmals versucht, mich umzubringen, habe nicht gehorcht und mich geweigert, zu essen. Und schließlich habe ich es geschafft, abzuhauen. Und jetzt suchen sie mich. Kein Wunder, sie kriegen Geld dafür, mich zu ‚heilen‘. Anfangs wollte ich das auch. Ich habe versucht, es positiv zu sehen, wollte mir helfen lassen – aber mir wurde nicht geholfen. Ganz im Gegenteil. Darum verachte ich diese Menschen, diese habgierigen Monster. >>Shinari.<< sagt Kayano, und ich wende ihm wieder meinen Blick zu. >>Sie werden dich finden, wenn du da oben bleibst, und du kannst nicht schnell genug herunterklettern. Spring, Shinari, ich werde dich auffangen und dich verstecken. Sie dürfen uns nicht finden – sonst werden wir für immer voneinander getrennt.<< Wieder kann ich die Tränen nicht zurückhalten – aber diesmal sind es Tränen des Glücks. Kayano bedeutet mir alles, er gibt mir Hoffnung. Er ist der einzige Grund, weshalb ich noch am Leben bin.

>>Luisa!<< rufen die Männer, und ich sehe sie auf mich zu rennen. Kayano streckt die Arme aus und lächelt mich liebevoll an. >>Beeil dich.<< formt sein Mund tonlos. Ich setze mich zitternd auf das Geländer und blicke hinab. Angst überkommt mich. Wieso? Ich habe mir die Schlagadern aufgeschnitten, um zu sterben, und auch wenn das trotz aller Gerüchte nicht funktioniert – ich wollte sterben. Aber das da unten, das ist Kayano. Er wird mich auffangen und mich wirklich ‚heilen‘. Er hat absolut Recht. Wenn wir es jetzt nicht schaffen, ihnen zu entkommen, werden wir uns nie wieder sehen. >>Luisa!<< rufen die Männer erneut, sie betreten die Brücke, bleiben aber gleich wieder stehen, um mir zu zeigen, dass sie mir vertrauen. >>Luisa, komm da runter! Wir werden dir helfen! Gib dich nicht selbst auf, wir glauben an dich!<< Ich funkle sie an. >>Nein.<< rufe ich ihnen entgegen, was sie dazu veranlasst, nun doch zu mir zu laufen. >>Ihr habt noch nie an mich geglaubt. Und ihr habt mir auch nie geholfen – ihr habt mein Leben zerstört! Kayano ist der Einzige, der je an mich geglaubt hat!<< Den letzten Satz habe ich geschrien, mit Tränen in den Augen und einer Wut im Herzen, die ich unbedingt noch loswerden muss, bevor ich springe. Ich nehme mein Messer und ramme es mir ins Bein. >>F***t euch doch!<< schreie ich, werfe das Messer zielsicher auf den Mann zu, der mir am nächsten ist, und stoße mich von der Brücke.

>>Luisa, nein!<< ruft der Mann, den ich mit meinem Messer ganz offensichtlich verletzt habe, mir hinterher. >>Kayano existiert nicht!<< Aber es ist zu spät. Für einen Moment kann ich fliegen, bin völlig frei. Das wollte ich schon immer tun – irgendwo runterspringen und fliegen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass die Männer verzweifelt zum Ende der Brücke hetzen um zum Bachbett zu klettern. Als könnten sie das jemals rechtzeitig schaffen. Ich konzentriere mich wieder auf den Fluss. Kayano sieht mir entschlossen entgegen, mit ausgestreckten Armen. Aber er fängt mich nicht. Ich gleite durch seine Arme hindurch wie durch Luft und knalle auf die Felsen. Wasser läuft aus meinem Kopf. Wasser? Nein, Blut. Hatten…die anderen doch recht? Bin ich verrückt geworden? Bilde ich mir alles nur ein? Entsetzt starrt mich Kayano an. Nein. Ich bin nicht verrückt. Kayano ist immer noch da. Es war nicht seine Absicht.

>>Oh mein Gott, Shinari, das tut mir so leid!<< keucht er. >>Schon gut.<< flüstere ich. >>Ich habe ja, was ich wollte.<< >>Was?<< fragt er mich verwirrt. >>Meinen Tod.<< antworte ich ihm leise. >>Ich wollte doch sterben. Es-<< Ich huste stark, und Kayano richtet mich halb auf, damit ich besser atmen kann. Als ich meine Hand wieder von meinem Mund wegnehme, ist sie mit frischem Blut befleckt. Früher habe ich es geliebt, mich bluten zu sehen. Aber es hat immer mehr an Bedeutung verloren – darum habe ich ja auch immer mehr von meinem Blut gebraucht. Jetzt ist es mir egal. >>Es ist nicht deine Schuld.<< beende ich endlich meinen Satz. Tränen tropfen aus Kayanos Augen auf meine Wangen. Sanft legt er mich wieder hin und holt ein Messer aus seiner Tasche. >>Was…<< fange ich an, aber sein Blick bringt mich zum Schweigen. Ich höre die Männer die Böschung hinunterklettern. Kayano hält das Messer so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Es holt tief Luft und rammt es sich in die Brust. Blut spritzt hervor und vereint sich mit meinem im dunklen Flusswasser. Es sieht aus als tanze es einen düsteren Tanz. >>Ich bleibe immer…bei dir.<< keucht Kayano mit tränenerstickter Stimme, sichtlich bemüht, nicht vor Schmerz aufzuschreien. Aber seine Augen sind voller Liebe, als er mich ein letztes Mal ansieht, bevor er mit einem lauten Platschen neben mich sinkt. Mein Körper wird immer schwerer, während ich langsam Kayanos Hand nehme. >>Shinari…<< flüstert er, dann schließen wir beide unsere Augen. Das Letzte, das noch in mein Bewusstsein sickert, sind die entsetzten Stimmen meiner Wärter. >>Oh mein Gott!<< keucht einer. >>D…das gibt’s nicht! Da…da ist ja echt noch einer!<< Das aufgeregte Stimmengewirr wird immer mehr von einem dunklen Nebel erstickt, der mich langsam umhüllt, wie eine Decke. Ich wusste es. Kayano existiert wirklich. Wir werden uns wiedersehen, ob im Himmel oder in der Hölle. Denn er liebt mich. Und ich liebe ihn.